Samstag, 13. Juni 2009

Pressebericht #5: Von der politischen Relevanz eines Pizzarezepts

Regisseur Marc Lippuner sucht noch immer deutsch-deutsche "Grenzüberschreibungen"


(Marc Lippuner, Freies Wort, 13. Juni 2009)


Marc Lippuner, Regisseur und Stipendiat im Schleusinger Künstlerhof, schreibt in loser Folge über sein Projekt. Heute geht es um den Aufruf, Briefe und Postkarten zur Verfügung zu stellen, die zwischen 1961 und 1989 über die innerdeutsche Grenze geschickt wurden:

Mehrfach bekam ich hier in Schleusingen nach meinem Aufruf gerade von älteren Menschen, denen das Dichtmachen der Grenzen und der Bau der Mauer konkret im Bewusstsein verankert sind, zu hören, dass sie sich doch gar nicht getraut hätten, irgend etwas Politisches nach drüben zu schreiben. Trotzdem ist der private Briefverkehr von Ost nach West und von West nach Ost, ganz gleich, ob er Politisches thematisierte oder nicht, schon deshalb von historischer Relevanz, weil jeder dieser Briefe, jede Postkarte, jede Notiz eine "Grenzüberschreibung" war. Ich möchte das an einem Beispiel erläutern: Kürzlich traf ich mich mit einer jungen Frau, die meinen Aufruf gelesen hatte und zu Hause fündig geworden ist: Eine kleine Kollektion von ihrer Cousine geschriebener Postkarten hatte die junge Frau nur aufgehoben, weil die Pferdebilder so schön waren. Ein weiterer Brief lag zwischen den Seiten eines Kochbuches der jungen Frau, weil ihre Freundin aus dem Westen ihr darin erklärt hat, wie man eine Pizza macht. Mit Teig und allem Drum und Dran. Harmlose Teenager-Post, "Grenzüberschreibungen", die nur scheinbar keine Relevanz haben. Heute regt es zum Schmunzeln an, dass Menschen im Osten überhaupt erklärt bekommen mussten, wie ein italienisches Nationalgericht zubereitet wird. Dieser Brief ist jedoch gerade deshalb ein alltagskulturelles Zeugnis dafür, dass in dem mittlerweile wiedervereinigten Land Generationen auf ganz verschiedene Art heranwuchsen und diese Generationen bis heute von dieser Teilung geprägt sind. Das ist keine neue Erkenntnis, zeigt aber auf unterhaltsame Weise auf, dass selbst ein einfaches Rezept in einem deutsch-deutschen Brief Bedeutung haben kann. Einige Schleusinger haben bereits ihre alte Post durchstöbert und mir ihre deutsch-deutschen Briefe zur Abschrift überlassen. Von David Hasselhoff über Ausreiseberichte bis Republikflucht ist das gesamte Spektrum von pubertär bis politisch-brisant abgedeckt. Leider sind noch nicht ausreichend Dokumente angesammelt, um sie - wie ich es vorhabe - Anfang August in einer Lesung zu präsentieren. Die Postkarten und Briefe, die selbstverständlich anonymisiert werden, sollen, ohne zu werten, als Zeugnis einer deutsch-deutschen Wirklichkeit zwischen Heiterkeit und Schrecken stehen, ohne die Sie und ich heute nicht wären, wo und wer wir sind. Daher bitte ich Sie, noch einmal ihre alten Briefe hervorzuholen und zur Verfügung zu stellen, damit die innerdeutschen "Grenzüberschreibungen" von und nach Schleusingen ein möglichst buntes Bild liefern, das sowohl durch individuelle Schicksale als auch durch kollektive Erinnerungen gestaltet ist. Ihre Dokumente schicken Sie bitte an Marc Lippuner, c/o Künstlerhof Roter Ochse, Elisabethstr. 8, 98553 Schleusingen, oder Sie vereinbaren mit mir einen Termin unter marc@lippuner.de. Vielen Dank.