Samstag, 5. September 2009

Pressebericht #9: Schleusingens verschwundene Orte im Blick

Marc Lippuner ist auf der Suche nach Geschichten und Erinnerungsstücken zum Geflügelschlachthof, dem Hilde-Coppi-Heim, der IKA und dem "Grünen Baum"

(Marc Lippuner, Freies Wort, 5. September 2009)

Abrissbagger arbeiten schnell. Als ich vor wenigen Wochen am Geflügelschlachthof vorbeilief, hatten die Gebäude nur ihre Fenster verloren, die sorglos gestapelt im Hof auf ihren Abtransport warteten. Jetzt ist fast alles weg, kaum noch etwas da von neunzigjähriger Betriebsamkeit. Sein Leben ausgehaucht hatte er ja schon lange, der Geflügelschlachthof, fast 19 Jahre lag er da in Totenstarre, dem Verfall preisgegeben, und nun verschwindet die Ruine aus dem Blick, um Platz zu machen für Neues. Der Gebäudekomplex war aus architektonischer Sicht wertlos, ein unattraktives Konglomerat aus An- und Umbauten, das sich hinter Grauputz versteckte, wirtschaftlich eine Ruine, deren Instandsetzung - wofür auch immer - sicher mehr gekostet hätte als ein Neubau. 
In Hinblick auf die Stadtgeschichte sollte der Geflügelschlachthof jedoch nicht so achtlos aus den Augen und damit aus dem Sinn verschwinden, schließlich war er fast einhundert Jahre Arbeitgeber in der Region, um den Bezirk Suhl, und vielleicht sogar ganz Thüringen mit Broiler und (zumindest zeitweise) auch mit Kaninchenfleisch zu versorgen. Eine Chronik über den Schlachthof gibt es nicht, nur unzureichend dokumentiert ist seine Geschichte, und so möchte ich damit beginnen, diese Chronik zu vervollständigen, wenn auch nicht mit Tabellen und Tortendiagrammen, sondern mit Geschichten von Menschen, die einen Bezug zu dem Betrieb hatten. Wozu dienten diese schachtgroßen Rohre? Waren Kollegen auch Freunde? Wie war es, den Kittel an den Haken zu hängen und zu wissen, dass man nicht wieder kommt? Wie funktionierte das Elektrobad? Haben auch Sie den Aufkleber einer westdeutschen Krankenkasse hoffnungsvoll an Ihren Garderobenschrank geklebt? Oder war das Ihr Patrick-Swayze-Poster auf der Türinnenseite eines Spindes? 
Es sind die Einblicke in Betriebsabläufe und die persönlichen Erlebnisse und Empfindungen, die mich interessieren. Um den verlassenen Ort nicht zu einem vergessenen zu machen.
Der Geflügelschlachthof ist eine von vier Einrichtungen, die in die Chronik von Schleusingens vergessenen oder zumindest verlorenen Orten aufgenommen werden soll. 
Die IKA, die nach einem hoffnungsvollen Start zur Wendezeit rücksichtslos abgewickelt wurde und teilweise einem Supermarkt weichen mußte, ist die zweite. 
Auch der dritte Ort ist durch einen Supermarkt ersetzt worden. Erwähnt man den Grünen Baum, der zwischenzeitlich auch Frieden hieß, zaubert sich in die Gesichter der meisten Schleusinger ein Lächeln: Da war es schön, hier sind wir immer hingegangen, hier hab ich meinen Petticoat geschwungen, Bockwurst und Brause eine Mark fünf, meinen ersten Kuss hab ich hier bekommen! Was sind Ihre schönsten Erinnerungen an den Gasthof am Markt 19? Und was wissen die Älteren unter Ihnen noch über die Einquartierung von Fremdarbeitern dort?
Ort Nummer vier - das Hilde-Coppi-Heim - versteckt sich nun schon lange hinter Bäumen, obwohl es einst mit Stolz über ganz Schleusingen blickte. Die Fußböden sind übersät mit von den Wänden geplatzten Fliesen, die Fensterscheiben gesplittert, der Dachstuhl und die oberen Etagen ausgebrannt in einer lauen Mainacht vor fünf Jahren. Ich suche Schwestern, die dort gearbeitet, Kinder, die dort behandelt wurden, den Mann, dessen Röntgenaufnahme ich dort gefunden habe, ich suche die Brandursache und Zeugen des Verfalls.
Egal, wie unwichtig oder unsinnig Ihnen Ihre Erinnerungen an einen der vier Orte scheinen, ich möchte sie gerne sammeln und dokumentieren. Auf Wunsch auch anonym. Um eine Bewertung geht es hierbei nicht. Schreiben Sie mir, leihen Sie mir Ihre Fotos und sonstigen Erinnerungsstücke und erzählen Sie mir Ihre Geschichten von den Orten, die nahezu verschwunden sind. Helfen Sie mit, ein Stück Stadtgeschichte  aufzubereiten, das sonst unwiederbringlich verloren geht.
Kontaktieren Sie mich per Mail (marc@lippuner.de) oder Post (Künstlerhof Roter Ochse, Elisabethstr. 8, 98553 Schleusingen), sprechen Sie mir auf den Anrufbeantworter (036841 55631) oder erreichen Sie mich mobil (0178 232 4993). Ich bin gespannt darauf, mit Ihrer Hilfe die Puzzleteile zu einem subjektiven Ganzen zusammenzusetzen.