Montag, 2. November 2009

Pressebericht #14: Erinnerung an verlorene Orte

Stipendiat Marc Lippuner bei der Verabschiedung: "Es war ein gutes halbes Jahr!"


(Karin Schlütter, Freies Wort, 2. November 2009)


Jeder Abschied nimmt ein Stück Leben mit sich. Der Abschied von Marc Lippuner, dem Stipendiaten im Künstlerhof Roter Ochse, nimmt ein großes Stück Leben in Schleusingen mit. In dem halben Jahr, in dem der junge Regisseur aus Berlin hier wohnte und arbeitete, hat er "am Schleusinger Dornröschenschlaf gerüttelt", wie es Bürgermeister Klaus Brodführer am Freitagabend treffend formuliert. "Marc Lippuner ist ein Typ, der in den Künstlerhof und in die Stadt passte", sagt er weiter. "Er hat Eindruck hinterlassen . . ." Das hat er in der Tat, sonst hätten die sechs Damen seiner Theatergruppe nicht unbedingt am Freitagabend zur Verabschiedung des Stipendiaten noch einmal "Drei Schwestern" im Doppelpack sein wollen, sonst wäre die Nachfrage nach den Tickets für das Stück frei nach Tschechow nicht um ein Vielfaches größer gewesen als es die Platzkapazität im "Ochsen". Und wie bei den beiden Veranstaltungen vorher hält auch diesmal das Publikum den Atem an, lacht und weint. Die Menschen finden sich wieder in den Biografien, den Träumen und Hoffnungen zwischen dem sich Manchmal-weit-weit-weg-Wünschens und dem Hier-verwurzelt-sein. Marc Lippuner hat mit sensibler Hand "Menschen zueinandergeführt und sie dazu gebracht, ihr Innerstes nach Außen zu kehren, und wir alle haben daraus gelernt", sagt es Klaus D. Niemann, der Stifter und Gründer des Künstlerhofs. Mit seinem Projekt "Schleusingen20NullNeun" - eine Bestandsaufnahme zwanzig Jahre nach dem der eiserne Vorhang zwischen den beiden deutschen Republiken fiel - ragte der 31-jährige Theaterregisseur heraus aus dem Kreis der Bewerber für das Stipendiat im Künstlerhof Roter Ochse. "Und wir waren uns im Kuratorium und Vorstand sofort einig: Das ist es!", erinnert sich Klaus Niemann. "Und das, was er vor hatte, ist voll aufgegangen - und mehr!" Mit Ideen, Fleiß und Euphorie hat er sein Projekt verwirklicht und dabei "neue Sicht- und Denkweisen hineingetragen", wie es Cornelia Graf vom Vorstand des Künstlerhofs sagt. Er hat Kinder angeregt, ihre Lieblingsorte zu suchen und dabei ihre Stadt zu entdecken. Er inszenierte mit "Grenzüberschreibungen" eine Geschichtsstunde, die 20 Jahre nach dem Mauerfall mehr vom Leben im geteilten preisgab als es mancher Film, manches Buch vermochte. Auf der Suche nach verlorenen Orten holte er fast vergessenes Leben ins Bewusstsein zurück. Was er in den Ruinen fand und auf das aufdringliche Muster von 70er-Jahre-Tapeten drapierte, hat er im Künstlerhof sozusagen in einem "Erinnerungsraum", wie er es selbst bezeichnete, ausgestellt: Eine Tasse, einen alten Wasserkessel, den er in den Ruinen am Kohlberg fand. Der Videofilm des Geisterhauses flimmert dort über den Bildschirm wie Sequenzen aus einem Gruselfilm. Wer dort freilich alte Fotos oder Dokumente aus den Lebensjahren des Hilde-Coppi-Heimes erwartet hatte, suchte sie hier vergebens. Das war auch nicht das Anliegen des Stipendiaten. Er suchte vielmehr die "Geschichten, die zwischen den Wänden hängen" und schrieb die Geschichte seines Besuchs im Geisterhaus auf. Sie ist nachzulesen auf der Tapete.

Ebenso wie die des Geflügelschlachthofs neben den bunten verblichenen Urlaubskarten. Sein ganz persönlicher Abschied von den beiden verlorenen Orten.

Der große Saal des Künstlerhofs ist voller Menschen, die dem sympathischen Regisseur Tschüss sagen wollten. Und Marc Lippuner hat schon ein bisschen Mühe, seine Bewegung zu verbergen. Der Künstlerhof jedenfalls ist kein verlorener Ort. Sondern ein Ort, "an dem ich die Chance hatte, solche Dinge wie das Dokumentartheater auszuprobieren. Dafür bin ich sehr dankbar. Es war ein gutes halbes Jahr. Ich habe so viel Unterstützung, so viele Freunde gefunden, bald 50 Leute persönlich kennen gelernt. Es fällt mir nicht leicht, jetzt zu gehen . . " - "Dann bleib doch einfach da!" ruft es aus dem Saal. Jeder Abschied nimmt ein Stück Leben mit sich. Marc Lippuner lässt viel da von sich, seinen Ideen und Träumen. Vielleicht macht er den einen oder anderen Traum wahr, wenn er für eine Zeit zurückkommt und rüttelt am Schleusinger Dornröschenschlaf. "Denn das hier", versprach er, "ist für mich noch nicht zu Ende."

Sonntag, 1. November 2009

Pressebericht #13: Kritischer Blick auf einen verlorenen Ort

Marc Lippuner, Stipendiat im Künstlerhof, lenkt den Blick auf die verlorenen Orte dieser Stadt, zum Beispiel den Geflügelschlachthof.


(Karin Schlütter, Freies Wort, 29. Oktober 2009, Auszug)

Ein halbes Jahr lebt und arbeitet Marc Lippuner im Künstlerhof "Roter Ochse" Schleusingen. Der 31-jährige Regisseur aus Berlin hat, wie kein anderer Stipendiat vor ihm, die kleine Stadt entdeckt - ohne Vorbehalte, mit dem ihm eigenen Blick auf Land und Leute - vor allem die Leute. Wie sie heute leben, 20 Jahre nach dem Mauerfall, das interessiert ihn, das saugt er auf. Was ist geblieben von Damals? Wie lebt es sich heute zwischen Kohlberg und Bergsee? Er lässt Kinder ihre Lieblingsorte entdecken, und sechs Frauen Theater spielen oder besser, sich selbst spielen. Er schreibt eine Geschichte über den Geflügelschlachthof, kurz bevor der Abrissbagger anrückt und stromert durch das Hilde-Coppi-Heim, das möglicherweise das Schicksal des Schlachthofes teilen wird. Für seine Geschichte "Ein letzter Besuch" erhält er den dritten Preis beim Suhler Literaturwettbewerb "Provinzschrei". Zur Preisverleihung kommt eine zwölfköpfige "Fan-Gemeinde" aus Schleusingen und sorgt damit für ein Besucherresonanz wie sie diese sonst wenig frequentierte Veranstaltung im Bankettsaal des Suhler CCS bisher kaum erlebte. Mit seiner außergewöhnlichen Fähigkeit zum Kommunizieren, öffnet er sich die Menschen. Sie erzählen ihm, dem jungen Fremden, ihre Geschichten, von ihrer ersten Liebe im Saal des Hotels "Frieden" bzw. "Grünen Baums" . . .

Morgen Abend werden "Die drei Schwestern", die eigentlich sechs und kein Tschechow sind, noch einmal im ausverkauften Saal des Roten Ochsen darüber nachdenken lassen, was für sie "Heimat" heißt. Nach zwei Vorstellungen ist die Ankündigung auf die dritte und letzte so groß, dass die Nachfrage die Kapazitätl des Saales bei weitem übersteigt. "Die Inszenierung, bei der das Publikum auf der Bühne - also mitten im Geschehen - sitzt, beschränkt leider die Platzzahl", bitten Vorstand und Kuratorium des Künstlerhofs um Verständnis. Doch auch für diejenigen, die kein Ticket für die "Drei Schwestern" um 19.30 Uhr bekommen konnten, ist der Besuch im Roten Ochsen am Freitag sicher interessant. Um 21 Uhr soll die Ausstellung "Verlorene Orte - Texte, Bilder, Fundstücke" mit einer Lesung von Marc Lippuner offiziell eröffnet und danach der Stipendiat verabschiedet werden.

Dienstag, 27. Oktober 2009

Pressebericht #12: Wenn Alltag Kunst wird...

"Grenzüberschreibungen", die berührten. Marc Lippuner inszenierte.

(Freies Wort, 27. Oktober 2009, Karin Schlütter)

Der große Saal des Künstlerhofs ist gespalten an diesem Freitagabend. Wenige Tage vor dem historischen Datum, an dem sich vor 20 Jahren eine Grenze öffnete. Eine Grenze, die ein Volk geteilt hat in Ostdeutsche und Westdeutsche. Menschen, die die meiste Zeit nur durch Briefe Kontakt halten konnten. Solche Briefe sind es, die Marc Lippuner, der junge Stipendiat im Künstlerhof, sich erbeten hatte für sein Projekt "Grenzüberschreibungen". 31 Briefe sind bei ihm eingetroffen, manche nur zufällig bewahrt worden, wie der von Doris an Simone. Weil Doris ihrer Freundin darin beschrieben hat, wie man eine Pizza bäckt, fand sich der Brief in einem Kochrezeptebuch. An diesem Freitagabend gibt es eine imaginäre Grenze im Künstlerhof, markiert vom gelben Westpaket. Es weckt Erinnerungen an Aldi-Kaffee und Fa-Seife, Kakao und Schokolade . . . Links und rechts der innerdeutschen Grenze, im Osten und im Westen, füllen die Besucher den Saal aus, mitten unter ihnen Tante Margot aus Minden, Rosemarie aus Erfurt, Mutter aus Düsseldorf und Kurt aus Schleusingen. Jene Schleusinger, die den Briefen ihre Stimmen gegeben haben. Die Namen sind, um die Anonymität zu gewährleisten, von Marc Lippuner geändert worden. " . . .hat ein Brieflein im Schnabel von der Mutter einen Gruß", klingt das Volkslied kunstvoll interpretiert aus dem Lautsprecher. Und 31 Geschichten, heitere und traurige, ganz alltägliche, füllen den Saal. Das Publikum hört gebannt zu, saugt jedes Wort in sich auf. "Ich habe gestern für Irma eingekauft, einen wunderbaren Stoff, er hat auch 8 Mark der Meter gekostet. Den habe ich von Bekannten im Kaufhof besorgt bekommen. Da kann sich Irma ein schönes Kleid und einen Rock von machen lassen . . ." schreibt Mutter aus Düsseldorf 1962. Und Barbara aus Wernshausen bedankt sich bei Tante Lore: "Besondere Freude hatte ich über das herrliche Hemd für meinen Verlobten und den wunderschönen Nylonstoff . . . Die Besucher im Künstlerhof freuen sich über die Schilderung der Flugversuche eines Wellensittichs und fühlen mit Kurt aus Schleusingen, der unbehelligt von der bewegten Zeit der Montagsdemonstrationen im Oktober 1989 von den letzten Tagen und dem Tod seiner lieben Hildegard berichtet. Es sind Briefe, die für Biografien von Menschen stehen, die in verschiedenen Gesellschaftssystemen auf verschiedene Art und Weise aufwuchsen. Die kleine Cathleen liest nur einen Satz, spielt auf ihrer Blockflöte "ein Stück von Haydn", das später die Nationalhymne der Bundesrepublik werden sollte und heute die des wiedervereinten Deutschland. Regisseur Marc Lippuner hat feinfühlig die passenden Stimmen den Briefen zugeordnet. Ohne Kommentar aneinandergereiht, von 1961 bis 1989. Kommentare braucht es auch nicht. Jeder kann eintauchen in seine Erinnerungen oder - die Jüngeren - in eine Zeit, die sie selbst nur aus Erzählungen kennen. "Die Gedanken sind frei", singt die Stimme aus dem Lautsprecher und wird von langanhaltendem Applaus abgelöst. Noch einge Weile plaudern die Besucher bei einem Glas Wein, erzählen von ihren Ost-West-Erlebnissen. "Genauer kann Geschichte nicht vermittelt werden", sagt Iane Reisenauer aus Aachen. "Bei allen großpolitischen Ereignissen, ist es doch die Erkenntnis: was liegt mir wirklich nahe. Ich bin sehr berührt. Wir waren gestern im Theater in Meiningen und zuvor in Nationaltheater Weimar. Dieser Abend hier hat mir mehr gegeben, weil hier Kunst nicht einfach übergestülpt wird."


Freitag, 23. Oktober 2009

Pressebericht #11: An Schleusingen denken - und leben

Mit genauem Blick und einer Menge Sensibilität hilft der junge Theater-Regisseur Marc Lippuner einer Kleinstadt in Südthüringen, sich selbst neu kennenzulernen.


(Frank Hommel, Freies Wort, 23. Oktober 2009)


Man kennt das aus der Gemälde-Galerie: Wer zu nah dran steht, überblickt die Zusammenhänge nicht mehr. Dann hilft es, ein paar Schritte zurückzutreten. So ähnlich ist es mit dem Leben. Hat sich der Mensch daran gewöhnt, nimmt er die - im Wortsinn - merkwürdigsten Dinge nicht wahr. Manches geht so verloren, im Kopf wie im Herzen.

In Schleusingen haben sie einen gefunden, der die Menschen bei der Hand nimmt, sie einlädt, mit ihm gemeinsam diesen Schritt zurück zu tun. Der ihnen eine neue Perspektive zeigt im Blick auf ihre Stadt, ihre Heimat, ihr Leben. Es ist Marc Lippuner, 31-jähriger Theaterregisseur aus Berlin. Lippuner hat in Berlin und Wien Literatur und Geschichte studiert, am Münchner Volkstheater bei Christian Stückl, dem Regisseur der Oberammergauer Passionsspiele, assistiert, drei Jahre in Aachen als Regieassistent gearbeitet. Doch dann kündigte er, wollte lieber frei sein. Ein Stipendium des Künstlerhofs "Roter Ochse" lockte ihn nach Schleusingen.

"Ich suche nach den Narben, die der Mauerfall in der Biografie einer Stadt hinterlassen hat, Narben, die unsichtbar geworden sind oder aber noch immer mühevoll kaschiert werden." Worte aus Lippuners Geschichte "Ein letzter Besuch". Worte, die ein Credo dessen sind, was er in nur sechs Monaten in Schleusingen geschafft hat. Für die Geschichte gab's beim Wettbewerb des Provinzschrei-Festivals den dritten Platz. Sie erzählt vom Geflügelschlachthof hinterm Bahnhof. Seit der Wende rottete das Areal vor sich hin. Inzwischen haben Abrissbagger ganze Arbeit geleistet. Zuvor konnte Lippuner mit dem Blick des neugierig Fremden an Erinnerung retten, was zu retten war. In Worten, die er niedergeschrieben, Dingen, die er aufgesammelt hat.

Mehr noch als mit dem Schlachthof verbinden viele Schleusinger mit dem Kinderheim "Hilde Coppi" das Weißt-du-noch-Gefühl. Auch an diesem Gebäude hatte die Zeit genug Zeit zu nagen. Ein Brand tat das Übrige: Das Hilde-Coppi-Heim wird des Schlachthofs Schicksal teilen. Die Erinnerung an das Heim wabert durch die Stadt wie die Sporen durch eine Pilzkultur. Lippuner hat auch sie bewahrt. Dafür sind sie ihm dankbar. Obwohl, oder vielleicht gerade weil sie oft so achtlos am Heim vorbei sahen wie am Schlachthof. Sie hatten sich an das traurige Bild gewöhnt. "Wer von uns", fragt Carmen Hoffmann vom Frauenchor "Slusia" rhetorisch, "wer von uns wäre auf die Idee gekommen, durch diese Ruinen zu klettern?"

Und nicht allein sichtbare Zeugen der Geschichte haben es Lippuner angetan. Dabei war es anfangs nicht seine Absicht, sich als Archäologe jüngster Vergangenheit zu versuchen. Es hat sich so ergeben, sagt er. Erst wollte er mehr Theater machen. In einer Stadt wie Schleusingen ein schwieriges Unterfangen. Wer sich in Berlin als Regisseur durchschlägt und gelernt hat, dass die Förderbürokratie sich nicht mit Inszenierungen überlisten lässt, sondern lieber Papiere abstempelt, auf denen das Wort Projekt draufsteht, weiß sich auch in der Provinz zu helfen.

So kam es zu den "Grenzüberschreibungen". Das Projekt wird heute vorgestellt. 30 Briefe, einst hinweg gesandt über den Eisernen Vorhang von oder nach Schleusingen, hat er zusammengesucht. "Manches ganz banal." Das Pizza-Rezept überwandt die Grenze ebenso wie der Wunsch nach Haarspray. Etwas Herablassung sei manchmal herauszulesen, und wenn die Briefe eins zeigen, sagt er, dann: Wie die Grenze im Lauf der Jahre hüben wie drüben zur Normalität wird.

Herausgekitzelt hat er auch etwas aus den Menschen. Denn ein Theaterstück ist ihm doch gelungen, auch wenn man es kaum klassisch nennen kann. Tschechows "Drei Schwestern" hat er ins Schleusingerische übersetzt. Bei ihm sind es sechs Frauen aus der Gegend, die über ihr Leben resümieren. Sechs echte, wohlgemerkt. Mit seiner einfühlsamen Art hat Lippuner es geschafft, dass sie auf der Bühne ihre Seele öffnen. Das Publikum hält den Atem an. Wer sich eine kleine Stadt ausmalt, in der jeder jeden kennt, kann sich vorstellen, wie schwer den Darstellerinnen das gefallen sein mag. "Ich hätte nie gedacht, dass man so schnell so etwas von sich preisgibt", sagt Johanna Hofmann. Mit 71 ist sie die älteste im Sextett. In ihrer Jugendzeit hatte sie Theater gespielt, dank Lippuner fand sie dahin zurück: "Er hat mir viel gegeben, auch in meinem Alter. Es ist, als ob man nachher wieder anders ins Leben reinguckt." Carmen Hoffmann vom Frauenchor berichtet vom Theaterabend: "Niemand, der hinterher nicht selbst darüber nachgedacht hat, was bedeutet Heimat für mich."

Die sechs Monate des Stipendiats sind fast um. Doch vom Geist in der Kleinstadt, den er geprägt hat, wird etwas bleiben. Johanna Hofmann: "Man sieht und empfindet die Umwelt anders." So oder so ähnlich fühlen viele in Schleusingen, denen die Begegnung mit dem 31-Jährigen mehr mitgab als nur den Augenblick. Manchmal hilft die Kunst tatsächlich, die Welt ein bisschen besser, das Leben ein bisschen reicher zu machen. Auch dann noch, wenn der Vorhang gefallen ist, das Buch zugeklappt, das Gemälde verstaubt.


Freitag, 16. Oktober 2009

Pressebericht #10: Briefe, die Grenzen überschrieben

(Marc Lippuner, Freies Wort, 16. Oktober 2009)

Als ich im Mai mein Stipendium hier im Künstlerhof antrat, bat ich Sie, in Ihren Schubladen zu stöbern, um Briefe, Postkarten oder sonstige Mitteilungen zur Verfügung zu stellen, die in der Zeit zwischen 1961 und 1989 über die innerdeutsche Grenze geschickt wurden. 
Meine Zeit hier ist nun bald zu Ende, deshalb möchte ich diese Dokumente, die über Jahre sorgsam bewahrt bzw. zwischen den Seiten eines Kochbuchs oder in der eigenen Stasi-Akte wiedergefunden wurden, nun schlussendlich in einer Lesung vorstellen.
Ihre Dokumente zeigen auf, dass der private Postverkehr zwischen DDR und BRD von unschätzbarem Wert ist, um einen Einblick in das alltägliche Leben mit den kleinen Problemen und persönlichen Schicksalen, in das Leben jenseits der großen politischen, geschichtsbuchwürdigen Ereignisse auf beiden Seiten der Grenze zu bekommen. Die meisten  vorliegenden Briefe sind aus dem Westen: Fragen nach Erhalt von Paketsendungen, Bitten, sich um Aufenthaltsgenehmigungen zu bemühen, Befindlichkeiten, Anekdoten der vergangenen Tage, Klatsch und Tratsch. Die aus der DDR in die Bundesrepublik geschickte Post liegt fast ausschließlich in Kopien des MfS vor und ist, schon weil sie abgeheftet wurde, selbst wenn der Inhalt nichtig erscheint, von politischer Relevanz. Die Bitte um ein paar Dosen Haarspray, der Gedanke, sich mit dem Freund aus Nürnberg am Balaton zu treffen, die Frage, wann der wegen Republikflucht inhaftierte Lebensgefährte wieder auf freien Fuß kommt - in den Briefen werden komische und tragische Splitter unterschiedlichster Biografien sichtbar, die den bisher zu wenig dokumentierten Blick in private Lebenswirklichkeiten des geteilten Landes ermöglichen.
Am Freitag, den 23. Oktober, sollen die Briefe um 19.30 Uhr im Roten Ochsen vorgestellt werden. Um daraus eine Veranstaltung zu machen, die der Vielfalt dieser Dokumente gerecht wird, und um die Adressaten unterscheiden zu können, vor allem jedoch, um die Lesung als ein Projekt dieser Stadt zu verankern, suche ich Schleusinger Bürger und Bürgerinnen von jung bis alt, die einen oder mehrere der Briefe im Künstlerhof vorlesen. 
Der Aufwand ist denkbar gering, deshalb hoffe ich sehr, Sie melden Sich bei mir (55631). Ich lasse Ihnen die Abschrift des ausgewählten Briefes zukommen, wir vereinbaren einen Termin, um den Text einmal in Ruhe zusammen zu lesen und treffen uns am 23. Oktober vor der Veranstaltung mit den anderen Lesern, um das Organisatorische festzulegen. Seien Sie Teil des Projekts, eines Projektes das direkt mit Schleusingen zu tun hat. Vielen Dank.

Samstag, 5. September 2009

Pressebericht #9: Schleusingens verschwundene Orte im Blick

Marc Lippuner ist auf der Suche nach Geschichten und Erinnerungsstücken zum Geflügelschlachthof, dem Hilde-Coppi-Heim, der IKA und dem "Grünen Baum"

(Marc Lippuner, Freies Wort, 5. September 2009)

Abrissbagger arbeiten schnell. Als ich vor wenigen Wochen am Geflügelschlachthof vorbeilief, hatten die Gebäude nur ihre Fenster verloren, die sorglos gestapelt im Hof auf ihren Abtransport warteten. Jetzt ist fast alles weg, kaum noch etwas da von neunzigjähriger Betriebsamkeit. Sein Leben ausgehaucht hatte er ja schon lange, der Geflügelschlachthof, fast 19 Jahre lag er da in Totenstarre, dem Verfall preisgegeben, und nun verschwindet die Ruine aus dem Blick, um Platz zu machen für Neues. Der Gebäudekomplex war aus architektonischer Sicht wertlos, ein unattraktives Konglomerat aus An- und Umbauten, das sich hinter Grauputz versteckte, wirtschaftlich eine Ruine, deren Instandsetzung - wofür auch immer - sicher mehr gekostet hätte als ein Neubau. 
In Hinblick auf die Stadtgeschichte sollte der Geflügelschlachthof jedoch nicht so achtlos aus den Augen und damit aus dem Sinn verschwinden, schließlich war er fast einhundert Jahre Arbeitgeber in der Region, um den Bezirk Suhl, und vielleicht sogar ganz Thüringen mit Broiler und (zumindest zeitweise) auch mit Kaninchenfleisch zu versorgen. Eine Chronik über den Schlachthof gibt es nicht, nur unzureichend dokumentiert ist seine Geschichte, und so möchte ich damit beginnen, diese Chronik zu vervollständigen, wenn auch nicht mit Tabellen und Tortendiagrammen, sondern mit Geschichten von Menschen, die einen Bezug zu dem Betrieb hatten. Wozu dienten diese schachtgroßen Rohre? Waren Kollegen auch Freunde? Wie war es, den Kittel an den Haken zu hängen und zu wissen, dass man nicht wieder kommt? Wie funktionierte das Elektrobad? Haben auch Sie den Aufkleber einer westdeutschen Krankenkasse hoffnungsvoll an Ihren Garderobenschrank geklebt? Oder war das Ihr Patrick-Swayze-Poster auf der Türinnenseite eines Spindes? 
Es sind die Einblicke in Betriebsabläufe und die persönlichen Erlebnisse und Empfindungen, die mich interessieren. Um den verlassenen Ort nicht zu einem vergessenen zu machen.
Der Geflügelschlachthof ist eine von vier Einrichtungen, die in die Chronik von Schleusingens vergessenen oder zumindest verlorenen Orten aufgenommen werden soll. 
Die IKA, die nach einem hoffnungsvollen Start zur Wendezeit rücksichtslos abgewickelt wurde und teilweise einem Supermarkt weichen mußte, ist die zweite. 
Auch der dritte Ort ist durch einen Supermarkt ersetzt worden. Erwähnt man den Grünen Baum, der zwischenzeitlich auch Frieden hieß, zaubert sich in die Gesichter der meisten Schleusinger ein Lächeln: Da war es schön, hier sind wir immer hingegangen, hier hab ich meinen Petticoat geschwungen, Bockwurst und Brause eine Mark fünf, meinen ersten Kuss hab ich hier bekommen! Was sind Ihre schönsten Erinnerungen an den Gasthof am Markt 19? Und was wissen die Älteren unter Ihnen noch über die Einquartierung von Fremdarbeitern dort?
Ort Nummer vier - das Hilde-Coppi-Heim - versteckt sich nun schon lange hinter Bäumen, obwohl es einst mit Stolz über ganz Schleusingen blickte. Die Fußböden sind übersät mit von den Wänden geplatzten Fliesen, die Fensterscheiben gesplittert, der Dachstuhl und die oberen Etagen ausgebrannt in einer lauen Mainacht vor fünf Jahren. Ich suche Schwestern, die dort gearbeitet, Kinder, die dort behandelt wurden, den Mann, dessen Röntgenaufnahme ich dort gefunden habe, ich suche die Brandursache und Zeugen des Verfalls.
Egal, wie unwichtig oder unsinnig Ihnen Ihre Erinnerungen an einen der vier Orte scheinen, ich möchte sie gerne sammeln und dokumentieren. Auf Wunsch auch anonym. Um eine Bewertung geht es hierbei nicht. Schreiben Sie mir, leihen Sie mir Ihre Fotos und sonstigen Erinnerungsstücke und erzählen Sie mir Ihre Geschichten von den Orten, die nahezu verschwunden sind. Helfen Sie mit, ein Stück Stadtgeschichte  aufzubereiten, das sonst unwiederbringlich verloren geht.
Kontaktieren Sie mich per Mail (marc@lippuner.de) oder Post (Künstlerhof Roter Ochse, Elisabethstr. 8, 98553 Schleusingen), sprechen Sie mir auf den Anrufbeantworter (036841 55631) oder erreichen Sie mich mobil (0178 232 4993). Ich bin gespannt darauf, mit Ihrer Hilfe die Puzzleteile zu einem subjektiven Ganzen zusammenzusetzen.

Montag, 31. August 2009

Pressebericht #8: "Drei Schwestern" im Doppelpack

Lebensgeschichten, die unter die Haut gehen. Nachdenken über Hiersein und Gernehiersein.


(Freies Wort, 31. August 2009, Karin Schlütter)


Es fängt alles so fröhlich an. Und so ganz anders. Statt Bühne und Zuschauerreihen eine Geburtstagstafel mit buntenTellern, Luftschlangen, leiser Partymusik. Das Publikum im großen Saal des Künstlerhofes sitzt mittendrin, bekommt von den festlich gekleideten Laienschauspielerinnen Kaffee und Kuchen serviert, hört ihrem Geplauder zu. Und ist schon mittendrin im Doku-Theater, das Marc Lippuner, Regisseur und Stipendiat im Künstlerhof, inszeniert hat. Es ist mittendrin in Tschechows Stück "Drei Schwestern" in der Variante Schleusingen20NullNeun. Bei Tschechow heißen sie Olga, Mascha und Irina. Bei Lippuner gibt es sie im Doppelpack namens Barbara, Sylvia, Gabi, Anja, Beate und Johanna. Auf Letztere warten fünf Schwestern an der Geburtstagstafel. Für sie haben sie das Fest arrangiert, zu ihrem 71. Geburtstag! Und dass die Johanna aus Altendambach diesen tags zuvor wirklich feierte - bei der Generalprobe - das gehört eben auch zu diesem ungewöhnlichen Projekt. An der Festtafel entbrennt inzwischen eine Diskussion über das Klatschnest, indem wer einmal mit einem anderen als dem eigenen Mann über den Markt läuft, gleich fremdgeht . . . aus dem sie sich fortträumen, die Schwestern. Kofferpacken und weg aus der Provinz, so wie bei Tschechow - nach Moskau? "Ich war noch niemals in New York . . ." singen die Sechs. Aber wollen sie das wirklich? Weg aus der kleinbürgerlicher Enge und Spießigkeit? Unsere sechs Schwestern beginnen laut nachzudenken, erzählen ihre ganz persönlichen Lebensträume, erzählen von ihren Hoffnungen, Sehnsüchten, Enttäuschungen. Von dem, was sie hier hält. Sylvia, die ins Schwärmen kommt, wenn sie die Landschaft beschreibt, " . . die Wälder, das viele Grün" und dann die Familie, das "tolle Gefühl, Oma einer einjährigen Enkeltochter" zu sein. Gabi, die mit ihrem Mann nach der Wende aus dem "erzkatholischen Köln nach Gethles kam" und hier mit rheinländischer Frohnatur schnell Freunde gefunden hat und viel glücklicher ist als sie es in Köln je war. Johanna, die schon soviele Ortswechsel erlebte und für die Heimat dort ist, wo sie Familie hat und "Freunde, denen ich vertrauen kann". Sie ist jetzt in Altendambach angekommen und will dort bleiben. Da ist Anja mit ihrem Traum von Hollywood, der zwar nicht berufliche Realität geworden ist, aber den sie dennoch lebt - als Hobby im Kabarett und eben im Theater. Bewegt hört das Publikum von Barbaras Hoffnung, mit ihrem Mann gemeinsam alt werden zu können. Eine Hoffnung, die vor zehn Jahren von einer Minute zur anderen zerbrach. Und doch lässt sie sich nicht vom Schicksal nicht unterkriegen. Baute das Kabarett auf und ist stolz auf ihre zwei Söhne und fünf Enkeltöchter. Und da ist die Erzieherin Beate, Mutter von vier Kindern, seit 20 Jahren an der Gerhart-Hauptmann-Schule. Soviel hatte sie von ihrem Beruf erhofft, soviel Enttäuschungen erlebt, weil nur noch wichtig sei, dass die Kinder ihre Hausaufgaben machen. Atemlos hört das Publikum diesen Monologen zu. Es gehört was dazu, soviel von sich preis zu geben. Sechs Frauen und ein junger Regisseur, der aus der Großstadt in die Provinz kam, zogen die Zuhörer in ihren Bann. Nicht enden wollender Applaus, als das Stück zu Ende ist. Viele bleiben noch sitzen an der "Geburtstagstafel", plaudern. "Das war nicht Provinz. Er (Marc Lippuner - d. Red.) hat sie zu weltstädtischen Höhen geführt", sagt Helmut Kazimirek. "Ich glaube, viele haben kapiert: Tschechow heißt nicht, das hier ein alter Russe zelebriert wird." All jene, die am Freitag oder am Samstag die Aufführungen im Künstlerhof gesehen haben - leider war die Platzkapazität begrenzt - sind mit dem Gefühl nach Hause gegangen, etwas ganz Besonderes erlebt zu haben und mit dem Nachdenken über das Hiersein und das Gernehiersein.