Dienstag, 27. Oktober 2009

Pressebericht #12: Wenn Alltag Kunst wird...

"Grenzüberschreibungen", die berührten. Marc Lippuner inszenierte.

(Freies Wort, 27. Oktober 2009, Karin Schlütter)

Der große Saal des Künstlerhofs ist gespalten an diesem Freitagabend. Wenige Tage vor dem historischen Datum, an dem sich vor 20 Jahren eine Grenze öffnete. Eine Grenze, die ein Volk geteilt hat in Ostdeutsche und Westdeutsche. Menschen, die die meiste Zeit nur durch Briefe Kontakt halten konnten. Solche Briefe sind es, die Marc Lippuner, der junge Stipendiat im Künstlerhof, sich erbeten hatte für sein Projekt "Grenzüberschreibungen". 31 Briefe sind bei ihm eingetroffen, manche nur zufällig bewahrt worden, wie der von Doris an Simone. Weil Doris ihrer Freundin darin beschrieben hat, wie man eine Pizza bäckt, fand sich der Brief in einem Kochrezeptebuch. An diesem Freitagabend gibt es eine imaginäre Grenze im Künstlerhof, markiert vom gelben Westpaket. Es weckt Erinnerungen an Aldi-Kaffee und Fa-Seife, Kakao und Schokolade . . . Links und rechts der innerdeutschen Grenze, im Osten und im Westen, füllen die Besucher den Saal aus, mitten unter ihnen Tante Margot aus Minden, Rosemarie aus Erfurt, Mutter aus Düsseldorf und Kurt aus Schleusingen. Jene Schleusinger, die den Briefen ihre Stimmen gegeben haben. Die Namen sind, um die Anonymität zu gewährleisten, von Marc Lippuner geändert worden. " . . .hat ein Brieflein im Schnabel von der Mutter einen Gruß", klingt das Volkslied kunstvoll interpretiert aus dem Lautsprecher. Und 31 Geschichten, heitere und traurige, ganz alltägliche, füllen den Saal. Das Publikum hört gebannt zu, saugt jedes Wort in sich auf. "Ich habe gestern für Irma eingekauft, einen wunderbaren Stoff, er hat auch 8 Mark der Meter gekostet. Den habe ich von Bekannten im Kaufhof besorgt bekommen. Da kann sich Irma ein schönes Kleid und einen Rock von machen lassen . . ." schreibt Mutter aus Düsseldorf 1962. Und Barbara aus Wernshausen bedankt sich bei Tante Lore: "Besondere Freude hatte ich über das herrliche Hemd für meinen Verlobten und den wunderschönen Nylonstoff . . . Die Besucher im Künstlerhof freuen sich über die Schilderung der Flugversuche eines Wellensittichs und fühlen mit Kurt aus Schleusingen, der unbehelligt von der bewegten Zeit der Montagsdemonstrationen im Oktober 1989 von den letzten Tagen und dem Tod seiner lieben Hildegard berichtet. Es sind Briefe, die für Biografien von Menschen stehen, die in verschiedenen Gesellschaftssystemen auf verschiedene Art und Weise aufwuchsen. Die kleine Cathleen liest nur einen Satz, spielt auf ihrer Blockflöte "ein Stück von Haydn", das später die Nationalhymne der Bundesrepublik werden sollte und heute die des wiedervereinten Deutschland. Regisseur Marc Lippuner hat feinfühlig die passenden Stimmen den Briefen zugeordnet. Ohne Kommentar aneinandergereiht, von 1961 bis 1989. Kommentare braucht es auch nicht. Jeder kann eintauchen in seine Erinnerungen oder - die Jüngeren - in eine Zeit, die sie selbst nur aus Erzählungen kennen. "Die Gedanken sind frei", singt die Stimme aus dem Lautsprecher und wird von langanhaltendem Applaus abgelöst. Noch einge Weile plaudern die Besucher bei einem Glas Wein, erzählen von ihren Ost-West-Erlebnissen. "Genauer kann Geschichte nicht vermittelt werden", sagt Iane Reisenauer aus Aachen. "Bei allen großpolitischen Ereignissen, ist es doch die Erkenntnis: was liegt mir wirklich nahe. Ich bin sehr berührt. Wir waren gestern im Theater in Meiningen und zuvor in Nationaltheater Weimar. Dieser Abend hier hat mir mehr gegeben, weil hier Kunst nicht einfach übergestülpt wird."


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