Montag, 2. November 2009

Pressebericht #14: Erinnerung an verlorene Orte

Stipendiat Marc Lippuner bei der Verabschiedung: "Es war ein gutes halbes Jahr!"


(Karin Schlütter, Freies Wort, 2. November 2009)


Jeder Abschied nimmt ein Stück Leben mit sich. Der Abschied von Marc Lippuner, dem Stipendiaten im Künstlerhof Roter Ochse, nimmt ein großes Stück Leben in Schleusingen mit. In dem halben Jahr, in dem der junge Regisseur aus Berlin hier wohnte und arbeitete, hat er "am Schleusinger Dornröschenschlaf gerüttelt", wie es Bürgermeister Klaus Brodführer am Freitagabend treffend formuliert. "Marc Lippuner ist ein Typ, der in den Künstlerhof und in die Stadt passte", sagt er weiter. "Er hat Eindruck hinterlassen . . ." Das hat er in der Tat, sonst hätten die sechs Damen seiner Theatergruppe nicht unbedingt am Freitagabend zur Verabschiedung des Stipendiaten noch einmal "Drei Schwestern" im Doppelpack sein wollen, sonst wäre die Nachfrage nach den Tickets für das Stück frei nach Tschechow nicht um ein Vielfaches größer gewesen als es die Platzkapazität im "Ochsen". Und wie bei den beiden Veranstaltungen vorher hält auch diesmal das Publikum den Atem an, lacht und weint. Die Menschen finden sich wieder in den Biografien, den Träumen und Hoffnungen zwischen dem sich Manchmal-weit-weit-weg-Wünschens und dem Hier-verwurzelt-sein. Marc Lippuner hat mit sensibler Hand "Menschen zueinandergeführt und sie dazu gebracht, ihr Innerstes nach Außen zu kehren, und wir alle haben daraus gelernt", sagt es Klaus D. Niemann, der Stifter und Gründer des Künstlerhofs. Mit seinem Projekt "Schleusingen20NullNeun" - eine Bestandsaufnahme zwanzig Jahre nach dem der eiserne Vorhang zwischen den beiden deutschen Republiken fiel - ragte der 31-jährige Theaterregisseur heraus aus dem Kreis der Bewerber für das Stipendiat im Künstlerhof Roter Ochse. "Und wir waren uns im Kuratorium und Vorstand sofort einig: Das ist es!", erinnert sich Klaus Niemann. "Und das, was er vor hatte, ist voll aufgegangen - und mehr!" Mit Ideen, Fleiß und Euphorie hat er sein Projekt verwirklicht und dabei "neue Sicht- und Denkweisen hineingetragen", wie es Cornelia Graf vom Vorstand des Künstlerhofs sagt. Er hat Kinder angeregt, ihre Lieblingsorte zu suchen und dabei ihre Stadt zu entdecken. Er inszenierte mit "Grenzüberschreibungen" eine Geschichtsstunde, die 20 Jahre nach dem Mauerfall mehr vom Leben im geteilten preisgab als es mancher Film, manches Buch vermochte. Auf der Suche nach verlorenen Orten holte er fast vergessenes Leben ins Bewusstsein zurück. Was er in den Ruinen fand und auf das aufdringliche Muster von 70er-Jahre-Tapeten drapierte, hat er im Künstlerhof sozusagen in einem "Erinnerungsraum", wie er es selbst bezeichnete, ausgestellt: Eine Tasse, einen alten Wasserkessel, den er in den Ruinen am Kohlberg fand. Der Videofilm des Geisterhauses flimmert dort über den Bildschirm wie Sequenzen aus einem Gruselfilm. Wer dort freilich alte Fotos oder Dokumente aus den Lebensjahren des Hilde-Coppi-Heimes erwartet hatte, suchte sie hier vergebens. Das war auch nicht das Anliegen des Stipendiaten. Er suchte vielmehr die "Geschichten, die zwischen den Wänden hängen" und schrieb die Geschichte seines Besuchs im Geisterhaus auf. Sie ist nachzulesen auf der Tapete.

Ebenso wie die des Geflügelschlachthofs neben den bunten verblichenen Urlaubskarten. Sein ganz persönlicher Abschied von den beiden verlorenen Orten.

Der große Saal des Künstlerhofs ist voller Menschen, die dem sympathischen Regisseur Tschüss sagen wollten. Und Marc Lippuner hat schon ein bisschen Mühe, seine Bewegung zu verbergen. Der Künstlerhof jedenfalls ist kein verlorener Ort. Sondern ein Ort, "an dem ich die Chance hatte, solche Dinge wie das Dokumentartheater auszuprobieren. Dafür bin ich sehr dankbar. Es war ein gutes halbes Jahr. Ich habe so viel Unterstützung, so viele Freunde gefunden, bald 50 Leute persönlich kennen gelernt. Es fällt mir nicht leicht, jetzt zu gehen . . " - "Dann bleib doch einfach da!" ruft es aus dem Saal. Jeder Abschied nimmt ein Stück Leben mit sich. Marc Lippuner lässt viel da von sich, seinen Ideen und Träumen. Vielleicht macht er den einen oder anderen Traum wahr, wenn er für eine Zeit zurückkommt und rüttelt am Schleusinger Dornröschenschlaf. "Denn das hier", versprach er, "ist für mich noch nicht zu Ende."

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